Freitag, 7. März 2014

"Esta noche deberíamos haber ganado"

 Die binationale Sicht auf ein Fußballländerspiel


Isabel ist nervös. Sie blickt ins Leere und atmet schwer aus. Für sie ist dieser Tag etwas ganz besonderes: Heute spielt die deutsche Fußballnationalmannschaft ein Freundschaftsspiel gegen Chile und Isabel wird ganz nah dabei sein, wenn sie später in der Stuttgarter Mercedes-Benz Arena sitzt. Doch das Spiel alleine ist nicht der Grund für ihre Nervosität. Chile und Deutschland, das sind Isabels Wurzeln. Ihr Vater ist Chilene, ihre Mutter deutsch. Beim heutigen Aufeinandertreffen stellt sich also unumgänglich die Frage, wen sie anfeuern wird. "Beide.", sagt sie lächelnd und präsentiert stolz die Chileflagge auf ihrer Wange und das Trikot der deutschen Nationalmannschaft, das sie sich bereits übergezogen hat. Vor dem Spiel ist für Isabel klar, dass sie sich an diesem Abend über jedes Tor freuen wird, egal, auf welcher Seite es fällt.

Doch je näher wir dem Stadion kommen, desto mehr scheint Isabels chilenische Seite von ihr Besitz zu ergreifen. Es haben sich bereits einige Fangruppen der Andenrepublik eingefunden und jede Gruppe wird von Isabel begeistert kommentiert. "¡Buena! ¡Viva Chile!" Sie stimmt bei Fangesängen mit ein und ist von der Stimmung ergriffen. 
Als dann endlich das Spiel anfängt, ist Isabel ganz Chilenin. Wild gestikulierend feuert sie "La Roja" (dt.: Die Rote. Der Spitzname der chilenischen Nationalmannschaft) an, kommentiert Spielzüge und flucht aus tiefster Seele in vulgärstem chilenischem Spanisch.



Und die chilenischen Spieler danken es ihr mit einer  herausragenden Leistung. In der zweiten Halbzeit brennen sie ein wahres Offensivfeuerwerk ab. Nur ein Tor will ihnen nicht gelingen, obwohl der chilenische Fanblock alles gibt, um den Ball doch noch ins Netz zu schreien, singen und klatschen. Auch Isabel verausgabt sich geradezu bei der Anfeuerung "ihrer" Mannschaft. Die irritierten Blicke, die sie dafür von den um uns herumsitzenden Deutschlandfans erntet, bemerkt sie gar nicht. Sie ist in einer anderen Welt.
Doch die Südamerikaner schaffen es einfach nicht, den Ball im Netz der Deutschen unterzubringen und so gewinnt Deutschland dann am Ende überaus glücklich mit 1-0.

Lange braucht Isabel, um den Adrenalinspiegel nach dem Spiel wieder etwas herunterzufahren. Ein ungerechtes Spiel sei es für sie gewesen, wiederholt sie oft. "Esta noche deberíamos haber ganado." - "Heute Abend hätten wir gewinnen müssen." Wir. Dazu zählt sich Isabel ganz selbstverständlich.


Am nächsten Tag unterhalte ich mich mit Isabel nochmals über das Spiel und den Gefühlskonflikt für sie, zwischen zwei Nationen zu wählen.

Ojos Abiertos: Also, Isi. Du warst ja gestern vor dem Spiel sehr aufgeregt. Kannst du einmal deine Gefühlslage vor dem Spiel beschreiben? Wie war das für dich?

Isabel: Ich war einfach richtig aufgeregt und patriotisch für Chile, weil ich unbedingt wollte, dass die auf jeden Fall ein gutes Bild abgeben, am besten natürlich gewinnen. Gleichzeitig habe ich gemerkt: Eigentlich kann ich ja gar nicht verlieren, weil ich ja eben auch Deutsche bin. Ich habe aber einfach gemerkt, wie stark ich an Chile hänge und wie sehr ich mich freue, das auch mit meinem Vater erlebt zu haben und die ganzen chilenischen Fans gesehen zu haben, wie sie alle euphorisch sind und sich einfach nur freuen und feiern. Gleichzeitig wissen sie, dass es nicht unbedingt ein großer Sieg sein wird. Aber trotzdem: diese Fußballfreude, das hat mich so begeistert und bestätigt, wie glücklich ich doch sein kann.

OA: Du hattest ja ein Deutschlandtrikot an und gleichzeitig noch eine Chileflagge auf der Wange, während des Spiels war das ja dann aber doch...

I: [unterbricht] Ich habe halt vorher wirklich überlegt, ob ich mir beide Wangen chilenisch mache, weil ich doch gemerkt habe, wenn ich das Deutschlandtrikot anhabe, dann ist ja Chile nur ganz klein vertreten mit nur einer Wange. Eigentlich ist doch im Herzen bei mir sehr viel Chile vertreten. Und dann habe ich mir auch die Jacke übergezogen, sodass man das Deutschlandtrikot gar nicht mehr sehen konnte. Aber das war echt... [stottert] Ich bin immer noch verwirrt darüber.

OA: Mein Eindruck war eigentlich...

I: [unterbricht] Obwohl ich überhaupt keine Ahnung habe. Ich kenne ja auch mehr deutsche Spieler.Von Chile musste ich ja die ganze Zeit fragen: "Wie heißen die denn jetzt?" Wer ist denn der mit dem Iro? Vidal, oder?

OA: Ja.

I: Ja! Sehr gut! Das habe ich mir wenigstens gemerkt.

OA: Ich hatte auch wirklich den Eindruck, dass du nicht mehr deutsch warst, als das Spiel anfing.

I: Nee, richtig! [lacht] Ja! Das hätte ich echt nicht gedacht.

OA: Du hast auch zwischendurch sehnsüchtig in Richtung der chilenischen Fankurve geschaut. Wärst du da gerne dabei gewesen?

I: Ja! Ich hätte auch noch mehr geschrien und gejubelt, aber unter den ganzen Deutschen wollte ich jetzt auch nicht noch mehr aus mir herausgehen. Ich habe mich sowieso schon sehr fehl am Platz gefühlt.

OA: Ist das auch ein Gefühl von Heimat, wenn du so vielen Chilenen begegnest?

I: Heimat nicht unbedingt, aber ich fühle mich dann einfach wohl. Sie sind ja auch nicht negativ aufgefallen, sie haben einfach gefeiert. Und dann denke ich halt: Das ist mein Blut und wie wunderbar, dass ihr Chile hier so schön vertretet.

OA: Du hattest also eigentlich keinen Gefühlskonflikt, sondern warst von Anfang auf Chiles Seite.

I: Ja, definitiv! Das Ergebnis regt mich auch jetzt noch auf. Cool, dass sie so gut gespielt haben, aber das 1-1 wäre auf jeden Fall verdient gewesen. Das hast du ja auch schon gesagt.

OA: Gibt es auch andere Momente in Deutschland, in denen du dich so stark mit Chile identifizierst?

I: [zögert] Also, das ist lustig. Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, woher ich komme, dann würde ich nie sofort Chile sagen, außer natürlich, ein Chilene oder jemand spanischsprachiges fragt mich. Man sucht sich schon immer die Vorteile aus. Wenn mich jemand deutsches fragt, woher ich komme, sage ich immer, dass ich aus Freiburg bin. Und erst auf die dritte Frage erkläre ich dann, dass mein Vater aus Chile kommt und nicht, dass ich mich chilenisch fühle.

OA: Ok, danke für das Gespräch, Isi!



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen