Donnerstag, 28. August 2014

Der letzte Dandy

Der letzte Dandy

eine Kurzgeschichte von Jan-Hendrik Heuer

 

Um ihn herum nur das Summen der ihm völlig unbekannten Gerätschaften, die ihn noch am Leben erhielten. Lange würden sie das auch nicht mehr hinbekommen, seine Zeit war gekommen. Das wusste er. Dieser verdammte Krebs, eine Seuche war das. Fast alle Männer seiner Familie väterlicherseits hatten irgendwann einmal damit zu tun gehabt. Das war ja das unerträgliche; Krebs wurde einfach vererbt. Nun war also auch er an der Reihe. Das gute war, dass niemand um ihn trauern würde, da war er sich ganz sicher. Die Familie seines Bruders schaute zwar ab und zu vorbei, das waren aber alles nur Formalitäten. Genau wie heute Morgen, als sein Neffe ihm seinen neugeborenen Sohn präsentierte. Das Prinzip von sozialen Interaktionen wie dieser war recht simpel: Er bekam etwas vorgesetzt und seine Verwandten erwarteten eine angemessene Reaktion von ihm. Soweit die Theorie. In der Praxis fiel es ihm jedoch deutlich schwerer und so hatte er sich mit aller Mühe zu einem schlichten „Schönes Kind!“ durchgerungen. Natürlich war das nicht genug gewesen, um zu verhindern, dass seine Verwandten nach dem Besuch wieder über ihn, den alten mürrischen Kauz, schimpften, aber es reichte, um nicht unangenehm aufzufallen. Überhaupt war es wohl eine gute Idee, vor seinem Tod nicht mehr großartig negativ aufzufallen. Rückblickend hatte sein Leben nämlich zu einem großen Teil aus Auffallen bestanden. Das war so nicht abzusehen gewesen.

Als ältester von drei Brüdern wurde er von Mutter stets bevorzugt, im Krieg kam er nicht, so wie seine Brüder, an die Front und als er dann trotzdem in Donezk in Gefangenschaft geriet, wurde er zum Friseur der sowjetischen Offiziere. Er war einfach zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Anstatt wie sein Bruder in den Kohleminen von Donezk seinen Körper kaputt zu schuften, übte er den Beruf aus, den er gelernt hatte. Heini, der Friseurmeister aus Oesede, schnitt den hohen Tieren der Roten Armee die Haare. So könnte es doch eigentlich weitergehen, hatte er sich damals gedacht. Da kommt man schon in Kriegsgefangenschaft und letztlich trinkt man dann abends mit Juri ein oder zwei Gläschen Wodka. Das ließ sich aushalten. Schließlich wurden sie alle freigelassen und gingen von Donezk wieder zurück in die niedersächsische Provinz (ja, teilweise waren sie wortwörtlich gegangen). Oesede hatte sie wieder. Ein großes Hallo war das, als die Heimkehrer plötzlich wieder im Dorf standen. Fünf Jahre hatte es gedauert. Paul, den jüngsten, hatten sie bereits für tot erklärt. Der Wiedereinstieg ins Leben war nicht leicht und jeder tat es auf seine Weise. Paul und Fitti stürzten sich direkt in die nächste Schufterei am Stahlofen, auch um ihre neugegründeten Familien unterhalten zu können. Für ihn war das nie eine Option gewesen, an Familie war er nicht interessiert. Und doch hatte er geheiratet.

Er bekam Gänsehaut, als er an diese Episode seines Lebens dachte. Denn so plötzlich, wie seine Ehe zustande gekommen war, ging sie auch wieder zu ende, und das erstaunliche war: Er war gar nicht daran Schuld gewesen. Er erinnerte sich an die Geschichten, die sich damals im Dorf erzählt wurden.

- Weißt du's schon? Heinrichs Frau ist vom Teufel besessen.
- Hast du auch das Geschreie gehört? Das war Heinis Frau. Sie lässt ihn nicht schlafen.
- Heinis Frau verlässt das Bett nicht mehr. Sie ist nicht mehr sie selbst.
- Sie hat sich in den Tod geschrien.

Und so sehr er sich auch anstrengte, er konnte den Tod seiner Frau nur aus diesen Gerüchten und Geschichten rekonstruieren. Eigene Erinnerungen fehlten ihm und so glaubte er mittlerweile das, was sich alle erzählt hatten. Der Verlust war der Auslöser gewesen, sein Leben komplett zu verändern. Man müsste das Leben zwingen, einen gut zu behandeln, hatte er sich gedacht. Es war so lange her und doch konnte er sich jetzt, im Krankenbett, noch genau an das Versprechen entsinnen, das er sich gemacht hatte: „Von jetzt an ist mein Leben eine einzige Feier.“

Von dem Geld, was er durch seinen kleinen Tante Emma-Laden verdiente, ließ er sich einen maßgeschneiderten weißen Leinenanzug nähen. Dazu trug er einen Gehstock und einen Hut, gerade so wie in den goldenen Zwanzigern, als das Dandytum noch gesellschaftlich akzeptiert war. Jetzt war das anders. In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren konnte man niemanden gebrauchen, der narzisstisch und selbstverliebt herumstolzierte. Es musste angepackt werden. Doch er sah gar nicht ein, sich der allgemeinen Aufbruchsstimmung anzuschließen. Lieber saufen, bis die Welt untergeht. Wenn er also, wie jeden Sonntagmittag, den Bürgersteig hinunter zum Ortskern lief, um den Bus in die Stadt zu nehmen, steckten die Leute die Köpfe zusammen und redeten abschätzig über „Heinis neuen Lebensstil“. Das war ihm allerdings alles herzlich gleichgültig; auf dem Hinweg hörte er nicht hin, und auf dem Rückweg bekam er von alledem gar nichts mehr mit, so betrunken war er. In der Stadt hinterließ er einen bleibenden Eindruck. Er suchte sich nur die Kneipen heraus, von denen er wusste, dass er dort die großen Geschäftsmänner treffen würde. Mit seiner Kleidung und seinem weltmännischen Gehabe fühlte er sich in diesen Kreisen gut aufgehoben. Und so lange er Geld hatte, fiel er nicht auf. Er erfand einen neuen Lebenslauf, ließ seine Trinkkumpanen wissen, er käme aus einer reichen Kaufmannsfamilie. Dass er das Geld zum Saufen aus der Kasse seines eigenen Ladens nahm und dass sein Bruder die Verluste durch seinen Lohn am Stahlofen ausglich, wusste keiner.

Noch heute war sein Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder angespannt. Paul hatte ihm nie verziehen, was er, Heini, seiner Familie durch seine Eskapaden angetan hatte. Ein Wunder, dass mein Neffe einigermaßen entspannt mit mir reden kann, dachte er. Wie oft hatte der als junger Mann ihn aus dem Graben holen müssen nach einem erneuten durchzechten Sonntag? Wie oft musste seine Schwägerin ihn sternhagelvoll mit dem Auto aus der Stadt abholen? Er hatte die Stimme von Hedwig jetzt noch im Ohr: „Heini, hör auf mit deinem Handrücken über die Frontscheibe zu wischen! Du zerkratzt alles mit deinen Siegelringen!“ Sie hatten vieles ertragen müssen mit ihm. Komisch, dass sie mich nie rausgeschmissen haben, dachte er. Dabei wusste er ganz genau, warum das nie passiert war. Sein Bruder hatte mit seiner Familie in seinem Haus gewohnt zu einer billige Miete. Ein ganz einfaches Abhängigkeitsverhältnis also. Trotzdem erstaunte es ihn immer wieder, dass dies ausgereicht hatte, um bei ihnen mit seinen Exzessen durchzukommen. Schließlich wusste er, dass Paul ständig vor Wut gebrodelt hatte und nur ganz selten war es zu einem Ausbruch gekommen.

Mit halbgeschlossenen Augen fingerte er an seinem Schlüsselbund herum. Endlich fand er den Haustürschlüssel und nach ein paar vergeblichen Versuchen öffnete sich die alte Tür nicht ohne quietschenden Protest. Es war spät, sehr spät. Er würde sich jetzt nur noch kurz eine Schnitte mit Mett schmieren und dann ins Bett fallen. Als er die Küchentür öffnete, erschrak er. Im Dimmerlicht der Deckenlampe saß Paul am Tisch und musterte ihn verachtend von oben bis unten. „Wie siehst du nur wieder aus, Heini? Dein Hemd hängt aus der Hose und dein Anzug ist dreckig.“, sagte Paul. Er bekam nicht sofort eine Antwort heraus. Aus seinem Mund kamen nur undefinierbare Laute, während er seinen Bruder mit glasigen Augen ansah. „Verdammt nochmal, Heini! Nicht mal mehr reden kannst du! Dass du dich nicht schämst!“, schrie ihn Paul an. Mittlerweile hatte er sich etwas gefasst und erwiderte nur verwundert: „Wofür sollte ich mich schämen, kleiner Bruder?“ „Wofür? Für dein Auftreten, für dein spätes Wiederkommen mitten in der Woche und dafür, dass du schon wieder Geld aus deiner eigenen Kasse gestohlen hast! Dafür vielleicht!“ Pauls Stimme überschlug sich. Im Flur hörte man Hedwig, wie sie die Kinder wieder nach oben schickte. Heinrich wusste, er musste einlenken, tat es aber nicht. Stattdessen lallte er: „Das einzige, wofür ich mich schäme, ist eure Kleinbürgerlichkeit.“ - Der Schmerz von Pauls Faust in seinem Gesicht setzte sofort ein und er ging zu Boden.

Als er jetzt an all das zurückdachte, fragte er sich: „Wofür habe ich das alles gemacht?“ Er musste sich diese Frage beantworten, bevor er aus der Welt ging. Angestrengt suchte und suchte er nach einem Grund. Als er ihn endlich gefunden hatte, war es, als könnte er nun loslassen. „Für mich“, hauchte er.
Niemand bekam es mit, als im Zimmer 376 am 10.Juli 1989 der letzte Dandy starb.

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