Der letzte Dandy
eine Kurzgeschichte von Jan-Hendrik Heuer
Um ihn herum nur das Summen der ihm völlig unbekannten Gerätschaften, die ihn noch am Leben erhielten. Lange würden sie das auch nicht mehr hinbekommen, seine Zeit war gekommen. Das wusste er. Dieser verdammte Krebs, eine Seuche war das. Fast alle Männer seiner Familie väterlicherseits hatten irgendwann einmal damit zu tun gehabt. Das war ja das unerträgliche; Krebs wurde einfach vererbt. Nun war also auch er an der Reihe. Das gute war, dass niemand um ihn trauern würde, da war er sich ganz sicher. Die Familie seines Bruders schaute zwar ab und zu vorbei, das waren aber alles nur Formalitäten. Genau wie heute Morgen, als sein Neffe ihm seinen neugeborenen Sohn präsentierte. Das Prinzip von sozialen Interaktionen wie dieser war recht simpel: Er bekam etwas vorgesetzt und seine Verwandten erwarteten eine angemessene Reaktion von ihm. Soweit die Theorie. In der Praxis fiel es ihm jedoch deutlich schwerer und so hatte er sich mit aller Mühe zu einem schlichten „Schönes Kind!“ durchgerungen. Natürlich war das nicht genug gewesen, um zu verhindern, dass seine Verwandten nach dem Besuch wieder über ihn, den alten mürrischen Kauz, schimpften, aber es reichte, um nicht unangenehm aufzufallen. Überhaupt war es wohl eine gute Idee, vor seinem Tod nicht mehr großartig negativ aufzufallen. Rückblickend hatte sein Leben nämlich zu einem großen Teil aus Auffallen bestanden. Das war so nicht abzusehen gewesen.
Als
ältester von drei Brüdern wurde er von Mutter stets bevorzugt, im
Krieg kam er nicht, so wie seine Brüder, an die Front und als er
dann trotzdem in Donezk in Gefangenschaft geriet, wurde er zum
Friseur der sowjetischen Offiziere. Er war einfach zur rechten Zeit
am rechten Ort gewesen. Anstatt wie sein Bruder in den Kohleminen von
Donezk seinen Körper kaputt zu schuften, übte er den Beruf aus, den
er gelernt hatte. Heini, der Friseurmeister aus Oesede, schnitt den
hohen Tieren der Roten Armee die Haare. So könnte es doch eigentlich
weitergehen, hatte er sich damals gedacht. Da kommt man schon in
Kriegsgefangenschaft und letztlich trinkt man dann abends mit Juri
ein oder zwei Gläschen Wodka. Das ließ sich aushalten. Schließlich
wurden sie alle freigelassen und gingen von Donezk wieder zurück in
die niedersächsische Provinz (ja, teilweise waren sie wortwörtlich
gegangen). Oesede hatte sie wieder. Ein großes Hallo war das, als
die Heimkehrer plötzlich wieder im Dorf standen. Fünf Jahre hatte
es gedauert. Paul, den jüngsten, hatten sie bereits für tot
erklärt. Der Wiedereinstieg ins Leben war nicht leicht und jeder tat
es auf seine Weise. Paul und Fitti stürzten sich direkt in die
nächste Schufterei am Stahlofen, auch um ihre neugegründeten
Familien unterhalten zu können. Für ihn war das nie eine Option
gewesen, an Familie war er nicht interessiert. Und doch hatte er
geheiratet.
Er
bekam Gänsehaut, als er an diese Episode seines Lebens dachte. Denn
so plötzlich, wie seine Ehe zustande gekommen war, ging sie auch
wieder zu ende, und das erstaunliche war: Er war gar nicht daran
Schuld gewesen. Er erinnerte sich an die Geschichten, die sich damals
im Dorf erzählt wurden.
-
Weißt du's schon? Heinrichs Frau ist vom Teufel besessen.
-
Hast du auch das Geschreie gehört? Das war Heinis Frau. Sie lässt
ihn nicht schlafen.
-
Heinis Frau verlässt das Bett nicht mehr. Sie ist nicht mehr sie
selbst.
-
Sie hat sich in den Tod geschrien.
Und
so sehr er sich auch anstrengte, er konnte den Tod seiner Frau nur
aus diesen Gerüchten und Geschichten rekonstruieren. Eigene
Erinnerungen fehlten ihm und so glaubte er mittlerweile das, was sich
alle erzählt hatten. Der Verlust war der Auslöser gewesen, sein
Leben komplett zu verändern. Man müsste das Leben zwingen, einen
gut zu behandeln, hatte er sich gedacht. Es war so lange her und doch
konnte er sich jetzt, im Krankenbett, noch genau an das Versprechen
entsinnen, das er sich gemacht hatte: „Von jetzt an ist mein Leben
eine einzige Feier.“
Von
dem Geld, was er durch seinen kleinen Tante Emma-Laden verdiente,
ließ er sich einen maßgeschneiderten weißen Leinenanzug nähen.
Dazu trug er einen Gehstock und einen Hut, gerade so wie in den
goldenen Zwanzigern, als das Dandytum noch gesellschaftlich
akzeptiert war. Jetzt war das anders. In den Fünfziger- und frühen
Sechzigerjahren konnte man niemanden gebrauchen, der narzisstisch und
selbstverliebt herumstolzierte. Es musste angepackt werden. Doch er
sah gar nicht ein, sich der allgemeinen Aufbruchsstimmung
anzuschließen. Lieber saufen, bis die Welt untergeht. Wenn er also,
wie jeden Sonntagmittag, den Bürgersteig hinunter zum Ortskern lief,
um den Bus in die Stadt zu nehmen, steckten die Leute die Köpfe
zusammen und redeten abschätzig über „Heinis neuen Lebensstil“.
Das war ihm allerdings alles herzlich gleichgültig; auf dem Hinweg
hörte er nicht hin, und auf dem Rückweg bekam er von alledem gar
nichts mehr mit, so betrunken war er. In der Stadt hinterließ er
einen bleibenden Eindruck. Er suchte sich nur die Kneipen heraus, von
denen er wusste, dass er dort die großen Geschäftsmänner treffen
würde. Mit seiner Kleidung und seinem weltmännischen Gehabe fühlte
er sich in diesen Kreisen gut aufgehoben. Und so lange er Geld hatte,
fiel er nicht auf. Er erfand einen neuen Lebenslauf, ließ seine
Trinkkumpanen wissen, er käme aus einer reichen Kaufmannsfamilie.
Dass er das Geld zum Saufen aus der Kasse seines eigenen Ladens nahm
und dass sein Bruder die Verluste durch seinen Lohn am Stahlofen
ausglich, wusste keiner.
Noch heute war sein Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder
angespannt. Paul hatte ihm nie verziehen, was er, Heini, seiner Familie
durch seine Eskapaden angetan hatte. Ein Wunder, dass mein Neffe
einigermaßen entspannt mit mir reden kann, dachte er. Wie oft hatte
der als junger Mann ihn aus dem Graben holen müssen nach einem erneuten
durchzechten Sonntag? Wie oft musste seine Schwägerin ihn
sternhagelvoll mit dem Auto aus der Stadt abholen? Er hatte die
Stimme von Hedwig jetzt noch im Ohr: „Heini, hör auf mit deinem
Handrücken über die Frontscheibe zu wischen! Du zerkratzt alles mit
deinen Siegelringen!“ Sie hatten vieles ertragen müssen mit ihm.
Komisch, dass sie mich nie rausgeschmissen haben, dachte er. Dabei
wusste er ganz genau, warum das nie passiert war. Sein Bruder hatte
mit seiner Familie in seinem Haus gewohnt zu einer billige Miete.
Ein ganz einfaches Abhängigkeitsverhältnis also. Trotzdem erstaunte
es ihn immer wieder, dass dies ausgereicht hatte, um bei ihnen mit
seinen Exzessen durchzukommen. Schließlich wusste er, dass Paul
ständig vor Wut gebrodelt hatte und nur ganz selten war es zu einem
Ausbruch gekommen.
Mit
halbgeschlossenen Augen fingerte er an seinem Schlüsselbund herum.
Endlich fand er den Haustürschlüssel und nach ein paar vergeblichen
Versuchen öffnete sich die alte Tür nicht ohne quietschenden
Protest. Es war spät, sehr spät. Er würde sich jetzt nur noch kurz
eine Schnitte mit Mett schmieren und dann ins Bett fallen. Als er die
Küchentür öffnete, erschrak er. Im Dimmerlicht der Deckenlampe saß
Paul am Tisch und musterte ihn verachtend von oben bis unten. „Wie
siehst du nur wieder aus, Heini? Dein Hemd hängt aus der Hose und
dein Anzug ist dreckig.“, sagte Paul. Er bekam nicht sofort eine
Antwort heraus. Aus seinem Mund kamen nur undefinierbare Laute,
während er seinen Bruder mit glasigen Augen ansah. „Verdammt
nochmal, Heini! Nicht mal mehr reden kannst du! Dass du dich nicht
schämst!“, schrie ihn Paul an. Mittlerweile hatte er sich etwas
gefasst und erwiderte nur verwundert: „Wofür sollte ich mich
schämen, kleiner Bruder?“ „Wofür? Für dein Auftreten, für
dein spätes Wiederkommen mitten in der Woche und dafür, dass du
schon wieder Geld aus deiner eigenen Kasse gestohlen hast! Dafür
vielleicht!“ Pauls Stimme überschlug sich. Im Flur hörte man
Hedwig, wie sie die Kinder wieder nach oben schickte. Heinrich
wusste, er musste einlenken, tat es aber nicht. Stattdessen lallte
er: „Das einzige, wofür ich mich schäme, ist eure
Kleinbürgerlichkeit.“ - Der Schmerz von Pauls Faust in seinem
Gesicht setzte sofort ein und er ging zu Boden.
Als er jetzt an all das zurückdachte, fragte er sich: „Wofür habe
ich das alles gemacht?“ Er musste sich diese Frage beantworten,
bevor er aus der Welt ging. Angestrengt suchte und suchte er nach
einem Grund. Als er ihn endlich gefunden hatte, war es, als könnte
er nun loslassen. „Für mich“, hauchte er.
Niemand bekam es mit, als im Zimmer 376 am 10.Juli 1989 der letzte
Dandy starb.