Donnerstag, 20. März 2014

Freiwilligendienst bei "Todo por Ellos" - einer Herberge für Straßenkinder in Tapachula (Mexiko)



 
Die Nichtregierungsorganisation “Todo por Ellos” bietet Essen, Wasch- und Schlafmöglichkeiten für zentralamerikanische Kinder und Jugendliche, die in der Grenzstadt Tapachula auf der Straße leben. Wir suchen dringend Freiwillige, die uns in unseren verschiedenen Tätigkeitsbereichen unterstützen.

Todo por Ellos
In Mexiko existiert ein Netzwerk von Herbergen, die Migrant_innen auf ihrem Weg in die USA unterstuetzen, ihnen Essen und ein Dach über dem Kopf anbieten. “Todo por ellos” ist eine Herberge, in der speziell jugendliche unbegleitete Migrant_innen Zuflucht und Unterstützung finden. Die Herberge befindet sich in Tapachula, nahe der mexikanischen Südgrenze zu Guatemala, im Bundesstaat Chiapas. Die Arbeit wird ueber Spenden und ohne Unterstuetzung von Regierung oder großen NGOs finanziert.  Das Projekt “Todo por ellos” existiert dennoch schon seit fünf Jahren.  Im Jahre 2009 begann Herbergsvater Ramón Verdugo sich für Straßenkinder in Tapachula einzusetzen – in ihrer großen Mehrzahl Kinder und Jugendliche aus Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua. Um diesen einen sicheren Ort, fern von Ausbeutung und Gewalt, bieten zu können, eröffnete er ein Jahr später die Herberge. 
Ramón Verdugo konnte das Projekt “Todo por ellos” bis heute - Repression und Übergriffen zum Trotz - aufrechterhalten, die sein Einsatz gegen eine unmenschliche Migrationspolitik, Polizeigewalt, Kinderhandel und Korruption der Lokalpolitiker nach sich zieht.  So schlossen die Behörden vor einem Jahr ohne Vorankündigung die Herberge und beförderten alle dort untergebrachten Jugendlichen auf die Straße, während Ramón Verdugo gerade außerhalb der Stadt war. Aufgrund von Drohungen gegen ihn sah er sich im Juli 2013 gezwungen, die Herberge erneut zu schließen und mitsamt seiner Familie das Land zu verlassen.
Dieses Jahr konnte „Todo por ellos“ endlich wieder ihre Türen für Straßenkinder öffnen. Im Januar 2014 kehrte Ramón nach Tapachula zurück, da ihm durch die Bundesgesetzgebung zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen und Journalist­_innen offiziell Polizeischutz gewährt werden muss. Die Herbergen und ihre Helfer_innen befinden sich jedoch dennoch, ähnlich wie andere Menschenrechts­vertreter_innen in Mexiko, in ständiger Gefahr. Denn sie kommen mit ihrer Arbeit nicht nur kriminelle Banden in die Quere, sondern sind auch lokalen Autoritäten ein Dorn im Auge, die von der Ausbeutung von Migrant_innen profitieren.
Die Situation von Straßenkindern in Tapachula
Die Situation von illegalisierten zentralamerikanischen Kindern und Jugendlichen in Tapachula ist äußerst komplex. Für Kinderhandelsringe stellen sie ein Geschäft dar und auch die korrupten Lokalbehörden sehen in ihnen vor allem eine Einnahmequelle. Die Verstrickung der Behörden geht soweit, dass die aktuelle Stadtregierung unter Samuel Chacon allen guatemaltekischen Kindern und Jugendlichen, die im Stadtzentrum  Kaugummis und Zigaretten verkaufen, täglich fünf Pesos abnimmt. Das Aufdecken dieser Ausbeutungsverhältnisse ist auch höchstwahrscheinlich der Grund für die Drohungen und Repression gegen Ramón Verdugo gewesen. 
Aufgrund von Straflosigkeit und Korruption hat sich Tapachula zu einer Hochburg von Kinderarbeit und Kinderprostitution entwickelt. Schätzungen zufolge arbeiten in Mexiko über 3 Millionen Kinder zwischen 5 und 15 Jahren. Der mexikanische Bundesstaat Chiapas führt seit Jahren die Statistiken von Kinderarbeit an. Gleichzeitig gab es in ganz Mexiko zwischen 2009 und 2011 weniger als 2.000 Anklagen wegen Kinderarbeit, Kinderprostitution und Kinderhandel – dies zeigt das Ausmaß der Straflosigkeit auf.
Direkte Unterstützung für Straßenkinder
Die Arbeit von „Todo por ellos“ richtet sich in erster Linie an Kinder und Jugendliche auf der Straße; zumeist Migrant_innen, aber auch Mexikaner_innen. Ihnen wird ein Platz zum Schlafen und etwas zu Essen angeboten, darüber hinaus, und soweit sie das wünschen, ein geregelter Tagesablauf und der Zugang zu Schulbildung. Das Ziel der Herberge ist es vor allen Dingen, die Kinder von der Straße zu holen -  denn dort sind sie am Verwundbarsten. Die staatlichen Institutionen, die verpflichtet wären, den Kindern beizustehen, sind eher Teil des Problems, denn der Lösung. Eine Hilfe aus der Zivilgesellschaft heraus ist also dringend notwendig, um die Situation der Kinder und Jugendlichen auf der Straße zu verbessern. 
Eine solche Unterstützung ist nicht nur kosten- sondern auch zeitaufwendig. Deshalb suchen wir Freiwillige, die uns bei unserer Arbeit unterstützen. Denn um unsere Arbeit professionalisieren zu können und mehr Straßenkinder zu versorgen, brauchen wir mehr engagierte Helfer_innen.
Die Arbeit der Herberge
Grundsätzlich besteht unsere Arbeit aus drei Schwerpunkten: der Betreuung von Kindern und Jugendlichen in der Herberge, Streetwork auf den Straßen und öffentlichen Plätzen von Tapachula sowie Öffentlichkeitsarbeit, um die Bevölkerung zu sensibilisieren.
1. Aufgaben für Freiwillige in der Herberge:
-       Zeit mit den Kinder und Jugendlichen verbringen, Ihnen zuhören und sie bei ihren alltäglichen Problemen unterstützen, z.B. auch bei Hausaufgaben
-       Essenszubereitung
-       Instandhaltung der Herberge und kleinere Reparaturarbeiten
-       Registrierung der Kinder und Jugendlichen, Dokumentation und Archivierung ihrer Geschichten
2. Auf der Straße:
-       Morgens und abends die Gegenden ablaufen, wo sich die Straßenkinder vermehrt aufhalten, ihnen Hilfe anbieten und sie in die Herberge einladen
-   Aufklärungsarbeit über Menschenhandel, Zwangsarbeit und Prostitution sowie Gegenstrategien und Präventivmaßnahmen

3. Sonstiges:
-  Vernetzungsarbeit mit lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Organisationen
-  Planung und Durchführung von Solidaritäts- und Aufklärungsaktionen, Demonstrationen, Infoständen
-       Begleitung der Kinder bei Arzt- und Krankenhausbesuchen

All diese Tätigkeiten können wir kaum abdecken. Deswegen suchen wir dringend nach Freiwilligen die uns unterstützen. Sowohl bei den oben erwähnten Aufgaben, wie auch, um weitere Projekte anzugehen.
Weitere Infos zu unser Arbeit findet ihr unter http://todoporellos.org.mx
Bei Interesse schreibt uns bitte ein kurze Mail auf Spanisch oder Englisch an info@todoporellos.org.mx

Freitag, 7. März 2014

"Esta noche deberíamos haber ganado"

 Die binationale Sicht auf ein Fußballländerspiel


Isabel ist nervös. Sie blickt ins Leere und atmet schwer aus. Für sie ist dieser Tag etwas ganz besonderes: Heute spielt die deutsche Fußballnationalmannschaft ein Freundschaftsspiel gegen Chile und Isabel wird ganz nah dabei sein, wenn sie später in der Stuttgarter Mercedes-Benz Arena sitzt. Doch das Spiel alleine ist nicht der Grund für ihre Nervosität. Chile und Deutschland, das sind Isabels Wurzeln. Ihr Vater ist Chilene, ihre Mutter deutsch. Beim heutigen Aufeinandertreffen stellt sich also unumgänglich die Frage, wen sie anfeuern wird. "Beide.", sagt sie lächelnd und präsentiert stolz die Chileflagge auf ihrer Wange und das Trikot der deutschen Nationalmannschaft, das sie sich bereits übergezogen hat. Vor dem Spiel ist für Isabel klar, dass sie sich an diesem Abend über jedes Tor freuen wird, egal, auf welcher Seite es fällt.

Doch je näher wir dem Stadion kommen, desto mehr scheint Isabels chilenische Seite von ihr Besitz zu ergreifen. Es haben sich bereits einige Fangruppen der Andenrepublik eingefunden und jede Gruppe wird von Isabel begeistert kommentiert. "¡Buena! ¡Viva Chile!" Sie stimmt bei Fangesängen mit ein und ist von der Stimmung ergriffen. 
Als dann endlich das Spiel anfängt, ist Isabel ganz Chilenin. Wild gestikulierend feuert sie "La Roja" (dt.: Die Rote. Der Spitzname der chilenischen Nationalmannschaft) an, kommentiert Spielzüge und flucht aus tiefster Seele in vulgärstem chilenischem Spanisch.



Und die chilenischen Spieler danken es ihr mit einer  herausragenden Leistung. In der zweiten Halbzeit brennen sie ein wahres Offensivfeuerwerk ab. Nur ein Tor will ihnen nicht gelingen, obwohl der chilenische Fanblock alles gibt, um den Ball doch noch ins Netz zu schreien, singen und klatschen. Auch Isabel verausgabt sich geradezu bei der Anfeuerung "ihrer" Mannschaft. Die irritierten Blicke, die sie dafür von den um uns herumsitzenden Deutschlandfans erntet, bemerkt sie gar nicht. Sie ist in einer anderen Welt.
Doch die Südamerikaner schaffen es einfach nicht, den Ball im Netz der Deutschen unterzubringen und so gewinnt Deutschland dann am Ende überaus glücklich mit 1-0.

Lange braucht Isabel, um den Adrenalinspiegel nach dem Spiel wieder etwas herunterzufahren. Ein ungerechtes Spiel sei es für sie gewesen, wiederholt sie oft. "Esta noche deberíamos haber ganado." - "Heute Abend hätten wir gewinnen müssen." Wir. Dazu zählt sich Isabel ganz selbstverständlich.


Am nächsten Tag unterhalte ich mich mit Isabel nochmals über das Spiel und den Gefühlskonflikt für sie, zwischen zwei Nationen zu wählen.

Ojos Abiertos: Also, Isi. Du warst ja gestern vor dem Spiel sehr aufgeregt. Kannst du einmal deine Gefühlslage vor dem Spiel beschreiben? Wie war das für dich?

Isabel: Ich war einfach richtig aufgeregt und patriotisch für Chile, weil ich unbedingt wollte, dass die auf jeden Fall ein gutes Bild abgeben, am besten natürlich gewinnen. Gleichzeitig habe ich gemerkt: Eigentlich kann ich ja gar nicht verlieren, weil ich ja eben auch Deutsche bin. Ich habe aber einfach gemerkt, wie stark ich an Chile hänge und wie sehr ich mich freue, das auch mit meinem Vater erlebt zu haben und die ganzen chilenischen Fans gesehen zu haben, wie sie alle euphorisch sind und sich einfach nur freuen und feiern. Gleichzeitig wissen sie, dass es nicht unbedingt ein großer Sieg sein wird. Aber trotzdem: diese Fußballfreude, das hat mich so begeistert und bestätigt, wie glücklich ich doch sein kann.

OA: Du hattest ja ein Deutschlandtrikot an und gleichzeitig noch eine Chileflagge auf der Wange, während des Spiels war das ja dann aber doch...

I: [unterbricht] Ich habe halt vorher wirklich überlegt, ob ich mir beide Wangen chilenisch mache, weil ich doch gemerkt habe, wenn ich das Deutschlandtrikot anhabe, dann ist ja Chile nur ganz klein vertreten mit nur einer Wange. Eigentlich ist doch im Herzen bei mir sehr viel Chile vertreten. Und dann habe ich mir auch die Jacke übergezogen, sodass man das Deutschlandtrikot gar nicht mehr sehen konnte. Aber das war echt... [stottert] Ich bin immer noch verwirrt darüber.

OA: Mein Eindruck war eigentlich...

I: [unterbricht] Obwohl ich überhaupt keine Ahnung habe. Ich kenne ja auch mehr deutsche Spieler.Von Chile musste ich ja die ganze Zeit fragen: "Wie heißen die denn jetzt?" Wer ist denn der mit dem Iro? Vidal, oder?

OA: Ja.

I: Ja! Sehr gut! Das habe ich mir wenigstens gemerkt.

OA: Ich hatte auch wirklich den Eindruck, dass du nicht mehr deutsch warst, als das Spiel anfing.

I: Nee, richtig! [lacht] Ja! Das hätte ich echt nicht gedacht.

OA: Du hast auch zwischendurch sehnsüchtig in Richtung der chilenischen Fankurve geschaut. Wärst du da gerne dabei gewesen?

I: Ja! Ich hätte auch noch mehr geschrien und gejubelt, aber unter den ganzen Deutschen wollte ich jetzt auch nicht noch mehr aus mir herausgehen. Ich habe mich sowieso schon sehr fehl am Platz gefühlt.

OA: Ist das auch ein Gefühl von Heimat, wenn du so vielen Chilenen begegnest?

I: Heimat nicht unbedingt, aber ich fühle mich dann einfach wohl. Sie sind ja auch nicht negativ aufgefallen, sie haben einfach gefeiert. Und dann denke ich halt: Das ist mein Blut und wie wunderbar, dass ihr Chile hier so schön vertretet.

OA: Du hattest also eigentlich keinen Gefühlskonflikt, sondern warst von Anfang auf Chiles Seite.

I: Ja, definitiv! Das Ergebnis regt mich auch jetzt noch auf. Cool, dass sie so gut gespielt haben, aber das 1-1 wäre auf jeden Fall verdient gewesen. Das hast du ja auch schon gesagt.

OA: Gibt es auch andere Momente in Deutschland, in denen du dich so stark mit Chile identifizierst?

I: [zögert] Also, das ist lustig. Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, woher ich komme, dann würde ich nie sofort Chile sagen, außer natürlich, ein Chilene oder jemand spanischsprachiges fragt mich. Man sucht sich schon immer die Vorteile aus. Wenn mich jemand deutsches fragt, woher ich komme, sage ich immer, dass ich aus Freiburg bin. Und erst auf die dritte Frage erkläre ich dann, dass mein Vater aus Chile kommt und nicht, dass ich mich chilenisch fühle.

OA: Ok, danke für das Gespräch, Isi!