„Die Grenze des nördlichen Mexiko ist eine
alte Narbe und sie wird erst heilen, wenn es nicht eine einzige Tote mehr gibt.“[2] Dies sind die Worte der mexikanischen
Dichterin und Menschenrechtsaktivistin Susana Chávez Castillo, die sich zu
Lebzeiten öffentlich für eine Aufklärung der sogenannten „Frauenmorde“ und ein
Ende der Gewalt in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez einsetzte - bis
sie vor inzwischen zwei Jahren, am 6. Januar 2011, selbst ermordet wurde.
Ciudad Juárez - Symbol der Grenze
Der Ort, an dem heute Ciudad Juárez liegt, ist
aufgrund seiner geographischen Lage seit Geschichtsschreibung der Kolonialmacht
Spanien als politisch strategischer Standpunkt bekannt[3].
Im Jahre 1848, nach Beendigung des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges, der auf
die Unabhängigkeit Mexikos von Spanien folgt, wird das Abkommen Guadalupe de
Hidalgo unterzeichnet. Dieses Abkommen legt fest, dass der Río Bravo genannte
Fluss fortan den Grenzverlauf zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko
markiert. Das Besondere daran ist, dass er die ehemals Paso del Norte genannte
Stadt durchteilt und daraus zwei macht: El Paso, Texas, USA und Ciudad Juárez,
Chihuahua, Mexiko.
Dort, wo die USA als vermeintliches Land der
unbegrenzten Möglichkeiten in Sichtweite sind und eine der täglich meist
befahrenen Grenzen zu regem Warenaustausch in beide Richtungen einlädt, liegt
das Territorium der sogenannten Maquiladoras.
In den 1960er Jahren beginnen multi-nationale Unternehmen, in dem Grenzraum
zwischen den USA und Mexiko Fabriken zu errichten, in denen aus importierten
Rohmaterialen fertige Konsumgüter erstellt werden, welche zollfrei zurück in
die USA importiert werden. Die Unternehmen entgehen durch diese Auslagerung
eines großen Teils ihrer Produktion den in den USA strengeren Regulierungen für
den Umweltschutz und die Arbeitnehmerrechte. Mit Unterzeichnung des
Freihandelsabkommens NAFTA von 1994, welches einen zollfreien Warenhandel in
beide Richtungen ermöglicht, erlebt die Maquiladora-Industrie einen
großen Aufschwung[4]. In den
Maquiladoras arbeiten viele junge Frauen, die aus armen Verhältnissen stammen
oder gar aus anderen Teilen Mexikos eingewandert sind, um sich hier in gering
entlohnter Schichtarbeit eine Überlebensgrundlage zu schaffen. Ciudad Juárez
ist eine stetig wachsenden Stadt, vor der auch der Drogenkrieg keinen Halt
macht: Laut Berichten der Frankfurter Allgemeinen sind in Juárez bei den
Kämpfen zwischen dem Sinaloa- und dem Juárez-Kartell bereits mehr als 10 500
Menschen ums Leben gekommen[5]. Und dann
wären da noch die vielen toten Frauen der Ciudad Juárez.
Der Feminizid von Ciudad Juárez
Im Jahre 1993 beginnt in Ciudad Juárez eine
brutale Mordserie an jungen Frauen, die bis zum heutigen Tag kein Ende gefunden
hat. Die Frauen, welche oft Angestellte der Maquiladoras sind und aus prekären
Verhältnissen stammen, werden meist in einem ähnlichen Muster verschleppt,
vergewaltigt und dann verstümmelt in der Wüste oder einem Straßengraben
aufgefunden. Durch die hohe Dunkelziffer ist unklar, wie viele Todesopfer es
bisher gegeben hat, Schätzungen reichen von 400 bis 1000[6].
Der Großteil der Morde bleibt unaufgeklärt und so taucht Ciudad Juárez immer
wieder mit traurigen Nachrichten in der Presse auf, zum Beispiel im
Jahresbericht 2013 von Amnesty International:
In the
first three months of 2012, at least 13 bodies of young women and girls were
discovered in the Valle de Juárez district outside Ciudad Juárez. Seven bodies
were reportedly identified as those of girls aged between 15 and 17 who had
been abducted in central Ciudad Juárez.[7]
Was bedeutet Feminizid?
Der englische Begriff femicide wird im Jahre 1976 von Diana Russell verwendet, um den
Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechtes zu bezeichnen und somit eine neue
Kategorie der Klassifikation von Morden als hate crime einzuführen.[8]
Obwohl dieser Begriff im englischsprachigen Raum wenig Anklang findet, machen
ihn sich lateinamerikanische Menschenrechtsaktivist*innen und Feminist*innen zu
eigen. Der politisch konnotierte Begriff des feminicidio (in Abgrenzung zum femicidio,
der ohne Implikationen den Mord an einer Frau bezeichnet), adaptiert von der
mexikanischen Politikerin und Feministin Marcela Lagarde, wird benutzt, um auf
die genderspezifischen Aspekte der vielen an Frauen verübten Morde hinzuweisen.[9]
Dies spielt eine wichtige Rolle, da in der Rechtssprechung einiger
mexikanischer Staaten die Kategorie des genderspezifischen Mordes nicht
existiert[10].
Nuestras
hijas de regreso a casa – Unsere Töchter auf dem Weg zurück nach Hause
In ihrer Hilflosigkeit haben sich die
Angehörigen der ermordeten Frauen zu einer NGO mit dem Namen „Nuestras hijas de
regreso a casa“ zusammen getan. Mit ihrer Präsenz im Internet und auf der
Straße versuchen sie eine Gegenöffentlichkeit und eine Plattform gegen das Vergessen
zu schaffen.[11]
Auch Susana Chávez beteiligte sich an der
Arbeit der Organisation und setzte sich mit ihren Gedichten für ein Ende der
Mordserie ein[12].
Auf ihrem Blog, der noch immer online zu finden ist, liest sich folgendes
Gedicht:
SANGRE NUESTRA UNSER BLUT[13]
Sangre mía, Mein
Blut
de alba, der
Morgenröte,
de luna partida, des geteilten Mondes,
del silencio. der
Stille.
de roca muerta, des
toten Steins,
de mujer en cama, der
Frau im Bett,
saltando al vacío, in
die Leere springend,
Abierta a la
locura. Dem
Wahnsinn offen.
Sangre clara
y definida, Blut,
hell und deutlich,
fértil y semilla, fruchtbar
und ein Samen,
Sangre
incomprensible gira, Blut,
unverständliche Reise
Sangre
liberación de sí misma, Blut,
die Befreiung von sich selbst
Sangre río
de mis cantos, Blut,
Fluss meiner Gesänge,
Mar de mis
abismos. Meer
meiner Abgründe
Sangre instante
donde nazco adolorida, Blut
des Momentes, wenn ich schmerzend geboren werde,
Nutrida de
mi última presencia.[14] Genährt
von meiner letzten Erscheinung.
Susana war
nur eine von vielen, genauso wie Ciudad Juárez nur ein besonders grausames
Beispiel ist. Was bleibt, ist ein Gefühl von Unverständnis und Ohnmacht. Und
die Gewissheit, dass es nicht nur am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen
(25. November) wichtig ist, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
_____________________________________________________________________________
Film- und Literaturtipps zum Thema
-
Nava, Gregory: Bordertown (2006)
-
Carrera, Carlos:
Das Paradies der Mörder (2009)
-
Portillo,
Lourdes: Señorita Extraviada (2001)
-
Bolaño, Roberto:
2666 (2004)
-
Gaspar de Alba,
Alicia: Desert Blood (2005)
[1] Carmen
Sosa, Luz del: ¡Ni una muerta más! Susana
Chávez, poeta y activista antipatriarcal es asesinada en cd. Juarez, en: http://noticiasdelarebelion.info/?p=5421,
12.01.2011 (Zugriff am 05.01.2014)
[2] Meine
Übersetzung.
[3] Unbekannt:
Ciudad Juárez, in:
http://es.wikipedia.org/wiki/Ciudad_Ju%C3%A1rez (Zugriff am 07.01.2014)
[4] Regionalwirtschaftliche
Effekte der NAFTA – Beispiel: Maquiladora-Industrie, in: http://www.klett.de/web/uploads/DO03029741_096_097.pdf
(Zugriff am 06.01.2014)
[5] Rüb,
Matthias: „Wahl in Mexiko. Jenseits des Rio Grande“, in: Frankfurter Allgemeine, 01.07.2012, in:
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wahl-in-mexiko-jenseits-des-rio-grande-11801364.html
(Zugriff am 07.01.2014)
[6] Zeiske,
Kathrin: „Gewalt mit Sytsem“, in: Jungle
World Nr. 13, 01.04.2010, in:
http://jungle-world.com/artikel/2010/13/40648.html (Zugriff am 06.01.2014)
[7] Amnesty
International: Annual Report: Mexico 2013,
in: http://www.amnestyusa.org/research/reports/annual-report-mexico-2013?page=5
(Zugriff am 06.01.2014)
[8] Russell,
Diana: “Femicide“ – The power of a name,
in: http://www.dianarussell.com/femicide_the_power_of_a_name.html (Zugriff am 02.01.2014)
[9] Cariboni,
Diana: ¿Femicidio, feminicidio? El
genocidio necesita un nombre en América Latina, en:
http://www.ips.org/mdg3/%C2%BFfemicidio-feminicidio-el-genocidio-necesita-un-nombre-en-america-latina/
(Zugriff am 06.01.2014)
(Zugriff am 06.01.2014)
[10] Amnesty
Internationl: Annual Report: Mexico 2013,
in: http://www.amnestyusa.org/research/reports/annual-report-mexico-2013?page=4
(Zugriff am 08.01.2014)
[12] Lucas,
Cat: [Mexico] In memory of Susana Chavez
Castillo, in:
http://www.englishpen.org/mexico-in-memory-of-susana-chavez-castillo-2/
(Zugriff am 06.01.2014)
[13] Meine
Übersetzung.
[14] Chávez, Susana: Sangre, in:
http://primeratormenta.blogspot.de/ (Zugriff am 06.01.2014)
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