Donnerstag, 9. Januar 2014

„La frontera del norte mexicano es una vieja cicatriz y no sanará hasta que no haya ni una muerta más“ [1]

„Die Grenze des nördlichen Mexiko ist eine alte Narbe und sie wird erst heilen, wenn es nicht eine einzige Tote mehr gibt.“[2] Dies sind die Worte der mexikanischen Dichterin und Menschenrechtsaktivistin Susana Chávez Castillo, die sich zu Lebzeiten öffentlich für eine Aufklärung der sogenannten „Frauenmorde“ und ein Ende der Gewalt in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez einsetzte - bis sie vor inzwischen zwei Jahren, am 6. Januar 2011, selbst ermordet wurde. 

Ciudad Juárez - Symbol der Grenze
Der Ort, an dem heute Ciudad Juárez liegt, ist aufgrund seiner geographischen Lage seit Geschichtsschreibung der Kolonialmacht Spanien als politisch strategischer Standpunkt bekannt[3]. Im Jahre 1848, nach Beendigung des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges, der auf die Unabhängigkeit Mexikos von Spanien folgt, wird das Abkommen Guadalupe de Hidalgo unterzeichnet. Dieses Abkommen legt fest, dass der Río Bravo genannte Fluss fortan den Grenzverlauf zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko markiert. Das Besondere daran ist, dass er die ehemals Paso del Norte genannte Stadt durchteilt und daraus zwei macht: El Paso, Texas, USA und Ciudad Juárez, Chihuahua, Mexiko.  



Dort, wo die USA als vermeintliches Land der unbegrenzten Möglichkeiten in Sichtweite sind und eine der täglich meist befahrenen Grenzen zu regem Warenaustausch in beide Richtungen einlädt, liegt das Territorium der sogenannten Maquiladoras. In den 1960er Jahren beginnen multi-nationale Unternehmen, in dem Grenzraum zwischen den USA und Mexiko Fabriken zu errichten, in denen aus importierten Rohmaterialen fertige Konsumgüter erstellt werden, welche zollfrei zurück in die USA importiert werden. Die Unternehmen entgehen durch diese Auslagerung eines großen Teils ihrer Produktion den in den USA strengeren Regulierungen für den Umweltschutz und die Arbeitnehmerrechte. Mit Unterzeichnung des Freihandelsabkommens NAFTA von 1994, welches einen zollfreien Warenhandel in beide Richtungen ermöglicht,  erlebt die Maquiladora-Industrie einen großen Aufschwung[4]. In den Maquiladoras arbeiten viele junge Frauen, die aus armen Verhältnissen stammen oder gar aus anderen Teilen Mexikos eingewandert sind, um sich hier in gering entlohnter Schichtarbeit eine Überlebensgrundlage zu schaffen. Ciudad Juárez ist eine stetig wachsenden Stadt, vor der auch der Drogenkrieg keinen Halt macht: Laut Berichten der Frankfurter Allgemeinen sind in Juárez bei den Kämpfen zwischen dem Sinaloa- und dem Juárez-Kartell bereits mehr als 10 500 Menschen ums Leben gekommen[5]. Und dann wären da noch die vielen toten Frauen der Ciudad Juárez.

Der Feminizid von Ciudad Juárez
Im Jahre 1993 beginnt in Ciudad Juárez eine brutale Mordserie an jungen Frauen, die bis zum heutigen Tag kein Ende gefunden hat. Die Frauen, welche oft Angestellte der Maquiladoras sind und aus prekären Verhältnissen stammen, werden meist in einem ähnlichen Muster verschleppt, vergewaltigt und dann verstümmelt in der Wüste oder einem Straßengraben aufgefunden. Durch die hohe Dunkelziffer ist unklar, wie viele Todesopfer es bisher gegeben hat, Schätzungen reichen von 400 bis 1000[6]. Der Großteil der Morde bleibt unaufgeklärt und so taucht Ciudad Juárez immer wieder mit traurigen Nachrichten in der Presse auf, zum Beispiel im Jahresbericht 2013 von Amnesty International:
In the first three months of 2012, at least 13 bodies of young women and girls were discovered in the Valle de Juárez district outside Ciudad Juárez. Seven bodies were reportedly identified as those of girls aged between 15 and 17 who had been abducted in central Ciudad Juárez.[7]


Was bedeutet Feminizid?
Der englische Begriff femicide wird im Jahre 1976 von Diana Russell verwendet, um den Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechtes zu bezeichnen und somit eine neue Kategorie der Klassifikation von Morden als hate crime einzuführen.[8] Obwohl dieser Begriff im englischsprachigen Raum wenig Anklang findet, machen ihn sich lateinamerikanische Menschenrechtsaktivist*innen und Feminist*innen zu eigen. Der politisch konnotierte Begriff des feminicidio (in Abgrenzung zum femicidio, der ohne Implikationen den Mord an einer Frau bezeichnet), adaptiert von der mexikanischen Politikerin und Feministin Marcela Lagarde, wird benutzt, um auf die genderspezifischen Aspekte der vielen an Frauen verübten Morde hinzuweisen.[9] Dies spielt eine wichtige Rolle, da in der Rechtssprechung einiger mexikanischer Staaten die Kategorie des genderspezifischen Mordes nicht existiert[10]

Nuestras hijas de regreso a casa – Unsere Töchter auf dem Weg zurück nach Hause
In ihrer Hilflosigkeit haben sich die Angehörigen der ermordeten Frauen zu einer NGO mit dem Namen „Nuestras hijas de regreso a casa“ zusammen getan. Mit ihrer Präsenz im Internet und auf der Straße versuchen sie eine Gegenöffentlichkeit und eine Plattform gegen das Vergessen zu schaffen.[11]

Auch Susana Chávez beteiligte sich an der Arbeit der Organisation und setzte sich mit ihren Gedichten für ein Ende der Mordserie ein[12]. Auf ihrem Blog, der noch immer online zu finden ist, liest sich folgendes Gedicht:

SANGRE NUESTRA                              UNSER BLUT[13]
Sangre mía,                                                Mein Blut
de alba,                                                   der Morgenröte,
de luna partida,                                       des geteilten Mondes,
del silencio.                                             der Stille.
de roca muerta,                                       des toten Steins,
de mujer en cama,                                   der Frau im Bett,
saltando al vacío,                                    in die Leere springend,
Abierta a la locura.                                    Dem Wahnsinn offen.
Sangre clara y definida,                             Blut, hell und deutlich,
fértil y semilla,                                       fruchtbar und ein Samen,
Sangre incomprensible gira,                      Blut, unverständliche Reise
Sangre liberación de sí misma,                  Blut, die Befreiung von sich selbst
Sangre río de mis cantos,                           Blut, Fluss meiner Gesänge,
Mar de mis abismos.                                  Meer meiner Abgründe
Sangre instante donde nazco adolorida,    Blut des Momentes, wenn ich schmerzend geboren werde,
Nutrida de mi última presencia.[14]           Genährt von meiner letzten Erscheinung.


Susana war nur eine von vielen, genauso wie Ciudad Juárez nur ein besonders grausames Beispiel ist. Was bleibt, ist ein Gefühl von Unverständnis und Ohnmacht. Und die Gewissheit, dass es nicht nur am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen (25. November) wichtig ist, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen.


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Film- und Literaturtipps zum Thema
-       Nava, Gregory: Bordertown (2006)

-       Carrera, Carlos: Das Paradies der Mörder (2009) 
-       Portillo, Lourdes: Señorita Extraviada (2001)

-       Bolaño, Roberto: 2666 (2004)
-       Gaspar de Alba, Alicia: Desert Blood (2005)



[1] Carmen Sosa, Luz del: ¡Ni una muerta más! Susana Chávez, poeta y activista antipatriarcal es asesinada en cd. Juarez, en: http://noticiasdelarebelion.info/?p=5421, 12.01.2011 (Zugriff am 05.01.2014) 
[2] Meine Übersetzung.


[3] Unbekannt: Ciudad Juárez, in: http://es.wikipedia.org/wiki/Ciudad_Ju%C3%A1rez (Zugriff am 07.01.2014)

[4]  Regionalwirtschaftliche Effekte der NAFTA – Beispiel: Maquiladora-Industrie, in: http://www.klett.de/web/uploads/DO03029741_096_097.pdf (Zugriff am 06.01.2014)

[5] Rüb, Matthias: „Wahl in Mexiko. Jenseits des Rio Grande“, in: Frankfurter Allgemeine, 01.07.2012, in: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wahl-in-mexiko-jenseits-des-rio-grande-11801364.html (Zugriff am 07.01.2014)

[6] Zeiske, Kathrin: „Gewalt mit Sytsem“, in: Jungle World Nr. 13, 01.04.2010, in: http://jungle-world.com/artikel/2010/13/40648.html (Zugriff am 06.01.2014)

[7] Amnesty International: Annual Report: Mexico 2013, in: http://www.amnestyusa.org/research/reports/annual-report-mexico-2013?page=5 (Zugriff am 06.01.2014)

[8] Russell, Diana: “Femicide“ – The power of a name, in: http://www.dianarussell.com/femicide_the_power_of_a_name.html (Zugriff am 02.01.2014)

[9] Cariboni, Diana: ¿Femicidio, feminicidio? El genocidio necesita un nombre en América Latina, en: http://www.ips.org/mdg3/%C2%BFfemicidio-feminicidio-el-genocidio-necesita-un-nombre-en-america-latina/
(Zugriff am 06.01.2014)

[10] Amnesty Internationl: Annual Report: Mexico 2013, in: http://www.amnestyusa.org/research/reports/annual-report-mexico-2013?page=4 (Zugriff am 08.01.2014)


[12] Lucas, Cat: [Mexico] In memory of Susana Chavez Castillo, in: http://www.englishpen.org/mexico-in-memory-of-susana-chavez-castillo-2/ (Zugriff am 06.01.2014)

[13] Meine Übersetzung. 
[14] Chávez, Susana: Sangre, in: http://primeratormenta.blogspot.de/ (Zugriff am 06.01.2014)



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